Lied-Vers-Reim
 
Den Hügel erklimmen
Herr Präsident, Frau Doktor Biden,
Frau Vizepräsidentin und Herr Emhoff,
Amerikaner und die Welt!
Wenn der Tag kommt, fragen wir uns:
Wo finden wir Licht in diesem endlosen Schatten?
Wir tragen Verlust, durchwaten ein Meer.
Wir trotzten dem Bauch der Bestie.
Wir lernten, dass Stille nicht immer Friede ist,
Und die Norm und das Normale,
Das nur „recht ist”, nicht immer gerecht ist.
Und doch ist die Morgenröte unser, bevor wir sie ahnen.
Irgendwie schaffen wir das.
Irgendwie haben wir eine Nation erlebt und überlebt,
Die nicht zerbrochen ist, sondern einfach unvollkommen;
Wir, die Nachfolger eines Landes, einer Zeit,
Da ein schmales Schwarzes Mädchen,
Abstammend von Sklaven und aufgezogen allein von ihrer Mutter,
Davon träumen kann Präsidentin zu werden,
Um sich jetzt wiederzufinden für einen vorzutragen.
Und ja, wir sind fern vom Licht, fern der Reinheit.
Aber das heißt nicht,
Wir ringen darum eine perfekte Einheit zu formen.
Wir ringen darum, unsere Einheit mit Sinn zu füllen,
Um ein Land zu einen, das allen Kulturen, Farben, Wesen
und Verhältnissen des Menschen verpflichtet ist.
Und so lenken wir unsere Blicke nicht auf das, was zwischen uns steht,
Sondern das, was vor uns steht.
Wir schließen die Kluft,
Weil wir wissen: Um unsere Zukunft zuerst aufzustellen,
Müssen wir zuerst unsere Unterschiedlichkeiten beiseite stellen.
Wir legen unsere Armierung ab,
Um unsere Arme einander auszustrecken.
Wir suchen für niemanden Verletzung und Frieden für alle.
Lasst die Welt wenigstens sagen, das ist wahr:
Dass wir gerade, wenn wir betrübt waren, wuchsen,
Dass wir gerade, wenn wir verletzt waren, hofften,
Dass wir gerade, wenn wir müde waren, uns mühten.
Dass wir für immer verbunden sein werden – siegreich,
Nicht, weil wir niemals wieder Niederlagen sehen werden,
Nein – weil wir niemals wieder Zwietracht säen werden.
Die Heilige Schrift gemahnt uns daran zu denken:
„Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen,
Und niemand wird sie schrecken.”
Wenn wir unserer eigenen Zeit gerecht werden wollen, liegt der Sieg
Nicht in den Schlachten, die wir schlagen,
Sondern in all den Brücken, die wir schlugen.
Das ist die verheißene Lichtung,
Der Hügel, den wir erklimmen, wenn wir es wohl wagen:
Denn Amerikaner zu sein ist mehr als der Stolz, den wir erben –
Es ist die Vergangenheit, in die wir eintreten, und wie wir sie erneuern.
Wir haben eine Macht gesehen, die unsere Nation
lieber zertrümmern als mit allen teilen würde,
Unser Land zerstören würde
In dem Vorhaben Demokratie zu stören.
Dieser Versuch wäre fast gelungen.
Aber während Demokratie
In regelmäßigen Abständen behindert werden kann,
Kann sie niemals dauerhaft verhindert werden.
Dieser Wahrheit, diesem Bekenntnis vertrauen wir.
Während wir nämlich unsere Augen auf die Zukunft richten,
Richtet die Geschichte ihre Augen auf uns.
Dies ist das Zeitalter des gerechten Ausgleichs.
Wir fürchteten es von Anfang an.
Wir fühlten uns nicht darauf vorbereitet,
Die Erben einer solch schrecklichen Stunde zu sein,
Aber in ihr fanden wir die Kraft
Ein neues Kapitel zu schreiben,
Uns selbst Hoffen und Lachen zu geben.
Während wir also einst fragten:
Wie nur könnten wir die Katastrophe bezwingen?
Beteuern wir jetzt:
Wie nur könnte die Katastrophe uns bezwingen?
Wir werden nicht wieder zurückkehren zu dem, was war,
Sondern bewegen uns zu dem, was wird:
Ein Land, das verletzt ist, aber ganz,
Gütig, aber mutig,
Kraftvoll und frei.
Wir lassen uns nicht umkehren oder stoppen durch Einschüchterung,
Denn wir wissen, unsere Untätigkeit und Trägheit
Werden das Erbe der nächsten Generation sein.
Unsere Fehler werden ihre Fallstricke.
Doch eins ist gewiss:
Wenn wir Mitgefühl mit Macht und Macht mit Recht verbinden,
Dann wird Liebe unser Vermächtnis
Und Wandel das Geburtsrecht unserer Kinder.
Lassen wir also ein Land hinter uns,
Besser als das, mit dem wir zurückgelassen wurden.
Mit jedem Atemzug unserer bronzen Brust
Werden wir diese wunde Welt zu einer wundersamen erheben.
Wir werden uns erheben von den goldgesäumten Hügeln des Westens!
Wir werden uns erheben vom windgepeitschten Nordosten,
wo unsere Vorväter zuvorderst den Aufstand vollzogen!
Wir werden uns erheben von den seegesäumten Städten
der Staaten des mittleren Westens!
Wir werden uns erheben vom sonnengebrannten Süden!
Wir werden unser Volk, vielfältig und pflichtbewusst,
Wiederaufbauen, wiederversöhnen und wiederherstellen
In jedem bekannten Winkel unserer Nation,
In jeder Ecke, die wir unser Land nennen.
Wir werden auftauchen, geschlagen aber schön.
Wenn der Tag kommt, treten wir heraus aus dem Schatten,
Flammend und frei von Furcht.
Die neue Morgenröte erblüht, sobald wir sie befreien,
Denn es ist immer Licht,
Wenn wir nur mutig genug sind es zu sehen,
Wenn wir nur mutig genug sind es zu sein.
Alexander Kammermeier, Januar 2022
Anmerkung
Liebe Leserin, lieber Leser,
an dem Tag, als Amanda Gorman ihr Inauguration-Poem für den neuen Präsidenten der U.S.A., Joe Biden, vortrug, warf ich im rechten Moment einen Blick auf die Fernseh-Übertragung dieser Zeremonie. Ich war fasziniert von der kraftvollen Sprache dieser jungen Frau. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch ein gestörtes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und ihrer Sprache.
In den Sommerferien nahm ich es mir jedoch vor, dieses beeindruckende Gedicht für deutschsprachige Menschen zugänglich zu machen, die vielleicht nicht weit genug in die englische Sprache einzusteigen vermögen. Die Ferien reichten nicht. In gewissen Abständen nahm ich mir den Text immer wieder vor, korrigierte weiter, manchmal auch wieder zurück, bis ich jetzt diesen Text vor mir habe, mit dem ich rundum zufrieden bin.
Ich versuche hier, eine fließendere Übersetzung anzubieten, als es das Büchlein aus dem Verlag Hoffman und Campe meinem Eindruck nach vermochte und hatte dazu den Ehrgeiz, die zahlreichen Alliterationen und Reime, die Amanda Gorman verwendet, ähnlich zahlreich anzuwenden, wenn auch an anderen Stellen – schließlich lässt sich nicht Sinn und Klang gleichzeitig von einer Sprache in eine andere übertragen.
Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, den Text so wortgetreu wie möglich zu übersetzen und seine Aussagen in seinen vielen Bezugnahmen korrekt wiederzugeben.
Durch die Auseinandersetzung mit diesem schönen Text und seinem wichtigen Anliegen der Versöhnung habe ich mit der Amerikanischen Kultur und Sprache meinen Frieden gemacht.
An einer Stelle beziehe ich mich (wie Amanda Gorman auf Ereignisse und Texte der U.S.A.) auf ein Ereignis in Deutschland und erinnere an einen Satz von Angela Merkel, der für mich textlich und inhaltlich eine Parallele zum amerikanischen Text besitzt. Es geht um die Offenheit gegenüber Flüchtlingen und Migranten.
Hast Du, liebe Leserin, lieber Leser, für eine Stelle eine schönere Idee – das ist natürlich ganz subjektiv – so kannst Du mich gerne darauf hinweisen. Schreib mir einfach an meine Mailadresse, wie unter dem Index-Punkt <Kontakt> angegeben. Solche Änderungen meines Textes werde ich mit Nennung des Urhebers vornehmen. Vielleicht kommen wir auch in eine fruchtbare Diskussion.
Ich hätte gerne eine zweisprachige Ausgabe hier vorgestellt und habe Amanda Gorman angefragt, ob ich ihr Gedicht veröffentlichen darf. Leider bekam ich bisher keine Antwort von ihrem Pressebüro. Deshalb stelle ich hier nur meinen Text aus.
Ich wünsche mir, dass die Aussagen dieses Textes eine verbindende Wirkung auch auf deutschsprachige Leser haben. Meinem Eindruck nach wollte Amanda Gorman genau das erreichen: dass die Bevölkerung Amerikas sich miteinander verbunden fühlt. Deshalb betont sie so oft das „Wir“ und sagt: „Wir schließen die Kluft“.
Nun bedanke ich mich für Dein Interesse und wünsche berührende Momente beim Lesen!